Freitag, 9. März 2012

Hand- und Hausarbeit 5: Der Riss 1

„Im Unterschied zu all den anderen Gegenständen […] war [der Riss, Anm.] […] etwas, das man nicht besitzen konnte; der Riss besaß einen, wenn überhaupt. Aber seine eigentliche Natur war die völliger Unbegreifbarkeit, jenseits aller Fragen von Besitz.“


Im Roman Die Frequenzen von Clemens J. Setz ist der Riss in der Beziehung zwischen Alexander Kerfuchs, einem der Hauptprotagonisten, und seinem Vater ein so zentrales Element, dass eines Tages ein solcher Riss in der Kellerwand zu sehen ist. Von Gaston Bachelard wissen wir, dass der Keller nicht nur Symbol für das Unterschwellig-Unbewusste sein soll, sondern das Unbewusste des Hauses ist.

Auf Seite 102 der fetten und teuren Residenz-Ausgabe der Frequenzen steht:

[Der Riss] erschien eines Morgens plötzlich an einer Kellerwand, erstreckte sich bis zum Rand eines alten Regals, in dem längst nicht mehr verwendete Geräte und Werkzeuge lagerten. Und vielleicht hörte er da auch auf.
Er tat es nicht.
Mein Vater, verschwitzt, seine Hände schmutzig und müde vom Verrücken des schweren Eisenregals, betrachtete das Ausmaß des Risses. Die ganze Wand entlang. Meine Mutter und ich standen im Hintergrund, hilflose Statisten, die auf das nächste Stichwort des Regisseurs warteten.
– Dreck, sagte mein Vater. Verdammter Dreck.
– Da hintern hört es vielleicht auf, sagte meine Mutter.
– Unsinn. Der geht immer weiter. Dass da die Wand ist, bedeutet nichts.“


Soll einmal eine/r so genau schauen dass sie/er alles sieht! Vielleicht hätte ein Sherlock Holmes oder Dr. House den Riss gesehen, ich aber nicht. Trotzdem war er da. Nicht an einer Wand, im Keller, sondern an der Decke des Schlafzimmers. Vom Bachelard wissen wir auch, dass die Vernunft (als Über-Ich) oben wohnt, im Idealfall im Dachgeschoss. Und jetzt wird es wild: Unten, dort wo man liegt, wenn man sich jemanden zu Füßen wirft, da unten liegt das Chaos, die Unordnung, das Unbewusste, das Menschliche (Georges Bataille würde das sofort bestätigen). Oben, dorthin wo man schaut, wenn man seinen Kopf nach hinten legt, um nachzudenken, da wohnt die Vernunft. Im Haus der Lüge von den Einstürzenden Neubauten wohnt sogar der erschossene Gott im Dachgeschoß!
Dort im Schlafzimmer, dem Zimmer des Schlafes, ist die Oberdecke von einem Riss durchzogen, der sich über jene Fläche zieht, zu der man hinaufschaut, wenn man die Vernunft sucht.
Der einzige Trost ist, dass Goya gesagt hat, dass der Schlaf der Vernunft (d.h. auch der Riss in der Vernunft) die Ungeheuer gebiert.

Im Gegensatz zu Holmes und House habe ich den Riss nicht gesehen, weil er mit bloßem Auge nicht zu sehen war. Stellenweise hatte die Decke des Schlafzimmers eigenartige Beulen und Ritzen. Ich bin mit einer Leiter hinaufgestiegen und hab gesehen, dass man seinen Fingernagel in die Ritze hineinstecken kann. Zerreisprobe Deckenfarbe – und eine doch recht große Scholle Farbe und Putz löste sich.

Anruf Verwandtschaft und der Ratschlag, die herunterhängende Farbe, das ganze Theater abzukratzen und das Darunterliegende mit einer Spachtel freilegen.

Wie man das große Problem freilegt, das hinter kleinen Problemen steckt.

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