Montag, 16. April 2012

Hand- und Hausarbeit 6: Der desktruktive Charakter


Egal wie oft ich sie lese, Texte von Walter Benjamin gefallen mir immer wieder und immer wieder, wenn ich sie lese, verstehe ich darin nichts. Die unerledigte Arbeit konzentriert sich nunmehr insbesondere auf einen Raum, das ist die Küche. Ich bin in Kontakt mit Möbelmenschen, die Pläne und Skizzen für neue schicke Küchen entwerfen im Stil „modern“.
Die Fliesen an der Wand der Küche, dem Raum in dem sich die Arbeit künftig konzentrieren wird, sind dick und alt, nicht weiter schlimm, allerdings auch – im Weg. Wenn eine neue Küche in den Raum der alten Küche kommen soll, müssen die Fliesen von der Wand entfernt werden. „Zerschlagen!“ oder etwas der Art hat K. gerufen. Der destruktive Charakter von W. Benjamin fällt mir ein:

Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.

YouTube hat mir in diesem Fall nicht geholfen, nur Leute mit komplizierten elektrischen Werkzeugen, das habe ich nicht, außerdem „sind das ja nur ein paar Fliesen“, wie ich immer wieder gesagt habe. Handarbeit, und immerhin: Walter Benajmin.

Ich verwendete:
  • Einen Hammer – der mittelgroßen Sorte / kein Hämmerchen und nicht den vorstellbar größten Hammer; auf Englisch könnte man dem Hammer schon den brachialen Namen sledge hammer geben, aber ich kann ihn immer noch mit einer Hand halten.

  • Mehrere Stemmeisen – ein kurzes, und zwei lange (NB: ich dachte, man macht das mit einem Brecheisen, stimmt nicht! mit einem Stemmeisen. das ist ein Stück Metall, mit einem stumpfen und einem spitzen Ende; das kurze ist etwa 20 cm lang, das lange etwa 40 cm)

Das spitze Ende des Stemmeisens wird an die Kante einer äußeren Fliese zur Wand angelegt und dann mit dem Hammer auf das stumpfe Ende geschlagen. – eigentlich klar. Wie bei der Malerrolle muss auch hier mit Kraft gearbeitet werden. D.h. mit der linken Hand gegen die Kante der Fliese drücken, mit dem Hammer nicht nur Geräusche machen, sondern draufschlagen.
Man macht es richtig, wenn es einem Staub und Splitter ins Gesicht und Haare schleudert.

Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird. Dies ist das große Band, das alles Bestehende einträchtig umschlingt. Das ist ein Anblick, der dem destruktiven Charakter ein Schauspiel tiefster Harmonie verschafft.


Das Problem bei den Fliesen war, dass die Fliesen in den 70er-Jahren nicht mit Kleber an die Wand montiert worden sind, sondern mit Beton auf den Ziegel. Und der Beton löst sich vom Ziegel wesentlich leichter als die Fliese vom Beton. Nach etwa 25 abgeschlagenen Fliesen löste sich ein halber Meter Beton einige Zentimeter von der Ziegelwand – neugierig hab ich daran gezogen und gemerkt, dass man so die ganze Betonmasse samt Fliesen von der Ziegelwand ablösen könnte.


Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. Die Natur ist es, die ihm das Tempo vorschreibt, indirekt wenigstens: denn er muß ihr zuvorkommen. Sonst wird sie selber die Zerstörung übernehmen.

Vermutet und getan: Das lange Stemmeisen kann zwischen Beton und Ziegel geschlagen werden und irgendwann kracht die ganze Misere von der Wand herunter.
Besser übrigens Sie hämmern nicht, wenn andere Leute schlafen wollen und besser übrigens, sie schließen die Türen zum Raum. Lärm und Staub im verschwenderischen Überfluss.

Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen.

Keine Tips kann ich zu den Fliesen in den Ecken geben. Immer wieder hämmern, mit dem Stemmeisen von dieser Seite, von einer anderen, das Stemmeisen in diesen Winkel fest andrücken und daraufschlagen, neu ansetzen, das Stemmeisen in jenen Winkel fest andrücken und daraufschlagen. Darauf achten, dass die Ziegel nicht kaputtgeschlagen werden. Immer wieder hämmern und neu ansetzen.

Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muß der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben.

Ob das Fliesenabschlagen eine Aufgabe für den destruktiven Charakter wäre? Ich weiß es nicht, weil ich den Text nicht verstehe. Das Bild, das mir vor Augen schwebt, mir schweben ja dauernd Bilder vor Augen, ist bereits hinter – also nach den unablässig, mit vor die Füße geschleuderten Trümmern der Fliesen: Die abgerissene Kante, die irgendwie (wie?) wohl wieder zu einer neuen ganzen verputzt werden soll. Und die aus der Wand stehenden Wasserrohre. Was ist damit?


Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. Bemühungen in dieser Richtung betrachtet er als oberflächlich. Das Mißverstandenwerden kann ihm nichts anhaben. Im Gegenteil, er fordert es heraus, wie die Orakel, diese destruktiven Staatseinrichtungen, es herausgefordert haben. Das kleinbürgerlichste aller Phänomene, der Klatsch, kommt nur zustande, weil die Leute nicht mißverstanden werden wollen. Der destruktive Charakter läßt sich mißverstehen; er fördert den Klatsch nicht.


Da ich nicht im Sinn von wegputzen vorhatte, aufzuräumen, glaube ich, der Parole des destruktiven Charakters gefolgt zu sein. Aber ich nenne das Fortschritt.

Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, daß das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt.

Vielleicht ist das auch die Tragik.