Sonntag, 7. Juni 2015

Der Mensch ist was 3

Ich bezahle heute wieder 7,50 Euro für das Frühstück, diesmal aber nur für Kaffee und Joghurtobstmüsli, keine Ahnung. In der Zeitung lese ich, dass drei Jugendliche in den Inn gesprungen sind, es ist unklar warum. Ich lese, der erste sei aus noch nicht geklärtem Grund hineingesprungen, beim zweiten und beim dritten kann vermutet werden, dass sie hineingesprungen sind, weil sie dem ersten nachgesprungen sind. Der Inn ist ein wilder Fluss, mitgerissenenes Treibgut geht im trüben Wasser unter, taucht wieder auf, lässt sich von der Promenade aus nur schwer verfolgen. Der erste hineingesprungene Jugendliche ist ans Ufer geschwommen, die beiden anderen sind davongetrieben worden mit ungewissem Ausgang.

Ein letztes Mal self-sevice am Bahnhof.

Samstag, 6. Juni 2015

Der Mensch ist was 2

Das Frühstück, wo ist es? Ein Pfeil zeigt von der Rezeption nach hinten, dort ist aber nur der Durchgang zum Innenhof. Ich gehe zurück zum Pfeil, folge ihm erneut nach und bin wieder im Innenhof, Verwirrung. Eine unscheinbare Tür mit nebenmontiertem Kartenleser ist die Lösung des Frühstückrätsels: Ein Eingang, der sich Hotelgästen zur benachbarten Bäckerei öffnet, die von Stefan. Ein kleiner, müder Schritt führt von einem Raum in den anderen, wo sich alles ändert: Dekorierte Wände, Musik und Brotgeruch statt karger Hotelwände mit einem sauberen Hauch von Putzmittel. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Tür hinter mir beim Zufallen verschwindet. Was ist das für eine Welt? Das totale Hotel, in dem man seine Karte nur in den Schlitz neben einer Tür zu stecken braucht und sie öffnet sich hin zu sonstwo, zur Bäckerei von Stefan oder zur Rathaus-Galerie, zur Uni, zum Bahnhof, zum Schlafzimmer, nach Indien, nach Marokko usw. usf.

Verlängerter, Joghurt mit Müsli und Schnippelobst, Croissant (Sind alle Croissants mit Nougart-Füllung, ja, und haben Sie auch welche ohne Nougart, ja, haben wir, gut, dann bitte so eines, bitte gerne Croissant ohne Füllung, einmal), 7,50 Euro. Die Ignoriertem bemerken, dass man an der Theke bestellt, zahlt und – bis auf den Kaffee – sich selbst serviert.

Ich unterhalte mich während eines ausgedehnten Frühstücks, das ich damit begonnen habe, in der Zeitung etwas über die Farbe der Unterhose von Angelina Jolie zu lesen (gelb), über die Ausdehnung der Materie. Wir tauschen unsere Bücher aus, alles sehr nett und freundlich.

An der Uni kann ich in den Gängen keine Regelmäßigkeit in der WC-Anordnung finden: Damen-WC, Damen-WC, Barrierefreies-WC (zugesperrt), Damen-WC. Schließlich entdecke ich gleich zwei WCs im Keller, m&w nebeneinander. Das WC nimmt alles, was man ihm gibt, darüber hinaus alles von allen: beim Herren-WC hat jemand den eleganten Herren im Anzug mit einem Sticker überklebt, auf dem steht, Ich bin für ALLE* offen, *-Referenz: m, w, trans, inter usw.

Ich lasse mir erzählen, dass es gar nicht so viele Vortrags-Einreichungen gab, kaum etwas abgelehnt, alles von allen war willkommen, insofern, einige merkwürdige Vorträge auch.

Ein ironischer Mülleimer nimmt auch alles.

Die Vorträge, alles von allen, alles in allem, interessant und weitgehend gut, trotzdem, wie immer, Hauptgewinn in Conference Bingo gut möglich:

  • der obligatorische Gender-Plenar-Vortrag wird (1) von einer Frau gehalten, die (2) irgendwie komisch angezogen ist.
  • I have two answers, a short one and a long one, and I will tell both.
  • ich ändere das Thema meines Vortrags, den Titel and the language I want to talk.
  • der Vortragende muss jetzt nach Istanbul fliegen.
  • ich habe diesen Vortrag das letzte Mal vor homöopathischen Ärzten gehalten.
  • ein tätowierter Hipster trägt zu Foucault vor.

Beim Mittagessen in der Pizzeria esse ich köstlichen griechischen Salat und neben mir sitzt eine Touristinnenfamilie mit drei kleinen Mädchen, die ihre Pizza teilweise selbst essen und sie teilweise ihren Stofftierhunden verfüttern möchten, die alle Laura heißen. Alle drei Mädchen erschrecken sich bei den Geräuschen der Flugzeuge.

K regt sich immer auf, wenn ich im self-service-coffee-and-more meine Tassen zurückbringe. Ich werde am Nachmittag in einem kleinen und obwohl nicht viele Leute dort sitzen werden, irgendwie hektischen Café einen Kaffee bestellen, und erneut wird es Selbstbedienung sein. Man bestellt an der Theke, trägt den Kaffee selbst nach draußen und gießt dann die Milch, Kaffeesahne, aus diesen kleinen Milchpackungen hinein, die ich nie aufbekomme, die unmöglich aufzubekommen sind, immer reist das Stück Deckel ab und ich tropfe die Milch dann halt langsam aus dem kleinen aufgerissenen Loch in die Tasse mit Kaffee, die am Plastiktablett steht.

Mir wird dämmern, dass es keine Bedienung gibt, wenn an den Tischen keine Menükarten stehen. Bin ich überheblich, wenn ich sage, dass mir das schon lästig ist? Wenn der Kaffee usw. billiger wäre, gut, ist er aber nicht. Die Frage liegt auf der Zunge, ob ich nicht, gern auch gratis auf den Knopf drücken soll, an der Maschine für den Kaffee, und wenn die Thekenbedienung möchte, kann sie mir auch Trinkgeld geben, wenn ich mein Plastiktablett zum Tisch hin- und später dann vom Tisch zurückbringe.

Am Abend frage ich eine Philosophin, ob sie objektive Phänomenologie wirklich ernst nimmt und sie fragt, ob ich sie das jetzt wirklich fragen will und wir einigen uns auf die interessantere Frage, ob jemand vom schon geschlossenen Buffet noch Bier mitgenommen und noch nicht ausgetrunken hat.

Jemand fragt mich, wie er von seinem Smartphone installierte Apps löscht und ich sage, dass man dazu mit dem Finger so lange auf ein Icon hält, bis Lösch-Symbole erscheinen und jemand anders sagt zu mir, das ist sowas von überhaupt nicht Punk, was ich da sage.

Die Häuser ziehen vorbei und traurige Gesichter, die noch trauriger werden staunen, wie schön die Probleme der anderen sind.

Der Mensch ist was

Jemand hat mir erzählt, dass der Flughafen Innsbruck schwierig anzufliegen sei. Das läge an den Bergen, die rundherum zu sehen sind. Ich erinnere mich, dass in Wuppertal das Hotelzimmer vibriert hat, wenn die Schwebebahn vorbeigefahren ist. Hier vibriert alles, wenn ein Flugzeug über das Hotel fliegt, und wenn man beim Fenster steht und nach oben schaut, dann sieht man die ausgefahrenen Fahrwerke der landenden Flugzeuge und deren Lichter vor einem Horizont mit Kirchtürmen und hohen Bergen. Bei den Aufzeichnungen der Vorträge wird man auch den Flugzeugen zuhören können. Manche werden sich sich dazu entscheiden, bei geschlossenen Fenstern zu schwitzen, andere, bei offen zu schwitzen.

Am Abend findet ein großer Empfang statt und griasch di, I kim wohl aus Tirol, sagt mir dort ein Student, der zwar wohl aus Tirol kommt aber in der Schweiz studiert, Theologie, und über das Böse vortragen wird. Wir stehen gemeinsam in der Buffetschlange und ich frage ihn, was das Böse ist und er sagt mir, das Böse ist das, was die größtmögliche Distanz zum Guten hat und alles was es gibt, sind Variationen des Bösen. Die Buffetbedienung fragt, ob wir Lachstörtchen haben möchten oder Schweinefleisch mit Pilzen oder panierte Garnelen oder Schnitzel und wenn, wie viele davon und ich sage, ja gerne und der Theologe schaut entsetzt und bittet um die Spinatlasagne mit etwas Reis.

Ich sage, dass ein anarchistisches Buffet vielleicht besser wäre, oder zumindest schneller und ein Philosoph sagt zu mir, dass das bestimmt Strategie ist, das Hundstrogprinzip. Wenn man gefragt wird, was man essen möchte, ist man höflich, und gibt nicht zu, dass man vier Schnitzel will, sagt höflich, man möchte eines haben oder bittet höflich und zwei und will sich dafür schon entschuldigen.

Eine unbeantwortete Frage ist: Was ist die Methode der Philosophie? Beobachten? Schlussfolgern? Argumentieren? oder was? Man stelle sich vor, dass die Geographen nur noch die Landschaft anschauen, und dass die Verhaltensforscher nur noch Verhalten beobachten, und dass die Informatiker nur noch auf Gadgets tippen. Aber es ist auch so: wer lange genug an der Universität herumgeistert, entwickelt einen methodischen Alltagshabitus. So kann ich (ich schreibe die Geschichte erneut), wenn ich nicht weiß, wo die Konferenz stattfindet, den Leuten nachgehen, die sich irgendwie merkwürdig fortbewegen und leicht unbeholfen versuchen, sich an nichtssagenden Schilden oder Plakaten für beliebige Veranstaltungen und dergleichen zu orientieren. Das ist zuerst amüsant und kann dann langweilig werden, wenn man sich am Abend beim Umtrunk trifft, dort aber nicht miteinander redet, sondern argumentiert.

Samstag, 11. April 2015

Mein Aufenthalt im Hotel findMe

Das Essen war sehr köstlich und das Zimmer geschmackvoll eingerichtet. Das ideale Hotel für mich, meine Familie und meinen Hund: http://hotel-findme-klagenfurt.blogspot.co.at/

Freitag, 5. Dezember 2014

Showbar 1

Gestern habe ich endlich Drachen gesehen, sagt mir die Russin bei einem Mittagessen und ich habe keine Ahnung, was sie damit meint, bis mir mit gedolmetschten Fragen klar wird, dass sie den Lindwurm vom Klagenfurt meint. Es war nicht einfach für sie, Drachen zu sehen, weil Weihnachten um den Drachen aufgebaut war, d.h. die Häuser des Adventmarkts, die sich am neuen Platz um die Steinfigur reihen und Einheimischen wie Angereisten den Blick versperren.

Auf unserer Suche nach einem offenen Glühweinstand finden K. & ich eine Portraitstation, bei dem man um fünf Euro die Zeichnungen von Hollywood-Stars von Depp bis Jolie sowie des verunglückten Landeshauptmanns von Kärnten (sein Portrait ist mit Wäschekluppen zu den Hollywood-Stars dazugeklemmt) kaufen kann. Bei den Glühweinständen sammeln sich unerträgliche Mitmenschen, deren Menschenschmasse weit in den Neuen Platz hineinreicht. Irgendwo dazwischen, quasi Moshpit, klatscht ein Krampus (trug er überhaupt eine Maske) den Mädchen an den Hintern.

K. und ich gehen abseits zum alten Platz, alter Platz für alte Menschen, die keine Nerven haben für andere. Unser Gang ist begleitet von den abgehackten Tscheppern von Kuhglocken, schreienden Kindern, Knallen und Lautsprechermusik. Wir geraten von der einen in die nächste Masse Mensch. Ob das Krampusse auf Motorrädern sind, die durch die Leute durchfahren. Hier sind noch mehr Menschen, sie stehen vor Absperrgittern, drehen ihr Köpfe nach rechts, weg von einer Bühne, die links steht. Rechts ist nichts zu sehen, von der Bühne aus kommentiert ein Moderator, vermutlich Mike Diwald, der Schwiegersohn von Radio Kärnten, das Geschehen und sagt, dass alle auf die Nächsten warten. Über Lautsprecher wird der alte Platz mit Musik beschallt, K. sagt Deathmetal zu Rammstein, auf einer Bank steht ein jünges Pärchen, das sich, schließlich war es auch nicht so kalt, gegenseitig ausgrapscht.

Wir kaufen uns zwei Einwegbecher Glühwein und warten auf das Spektakel, das für mich eher darin besteht, den angetrunkenen Jugendlichen zuzuschauen, die zwischen Müllkübeln und ihren ebenso angetrunkenen Freunden herumeiern. Viele sind im Gesicht schwarz angemalt, ich frage mich, ob es hier Autodrom oder was gibt, K. erklärt mir, dass das die Krampusse waren. Schließlich kommen die Krampusse, die durchnummeriert an den Absperrgittern vorbeigehen, sich fotographieren lassen und den kleinen Kindern die Kappe übers Gesicht ziehen. Bemerkenswert ist ein Krampus mit Laubbläser, der das Publikum damit wegpusten will, das sich aber von ihm wegdreht. Der Laubbläserkrampus bläst sich selbst auf die Maske, seine langen Haare wehen im Wind.

Später werden wir bemerken, dass alle erträglichen Innenstadtlokale geschlossen sind und wir werden uns auf den Weg machen zur Showbar, in der der nächste Krampus als Barkeeper mit Pfeife um den Hals den Gästen Laune und Alkohol einflößt. Ich hasse Barkeeper, werde ich zu K. sage, diese Vereinigung des Üblen von Strandanimateuren und Schauspielern. Der Barkrampus macht alles besonders theatralisch, jede Bewegung ist eine zur Schau gestellt Geste. Beim Wechseln der Musik von Track A auf Track B, wird der Barkeeper seine um den Hals hängende Trillerpfeife in den Mund nehmen und ein paar Töne in das Lokal pfeifen. Er wird mit Flaschen und Gläsern jonglieren, dazu herumtanzen, den Bartisch anzünden, seinen Cocktailshaker schwingen und der Kellnerin zuwinken.

Karsten Krampitz schreibt, dass man sich in Kärnten nur zu Tode trinken kann, der einzige Ausweg aus der tiefsitzenden und allumfassenden Melancholie in dieser Beckenlage. Realistisch betrachtet, gibt es sonst auch nicht so viel mit sich anzufangen, wenn man nicht vom Laubbläser davonwehen lassen möchte.

In der Showbar werden sich zwei drei Muskeltpyen in engen T-Shirts ein Schnitzel vom benachbarten Italiener bestellen, der es ihnen in die Showbar auf den Tisch bringen wird. K. und ich werden unsere theatralisch gemixten Mischgetränke trinken und ich werde zuschauen, wie die Muskeltypen ihr Schnitzel essen.

Sonntag, 22. Juni 2014

Materialismus 2

Ich bin sehr erstaunt darüber, dass hier so viele so viel über Gott reden. Hier werden Bemerkungen abgetan mit, Das ist keine metaphysische Frage. Materie wehrt sich nicht, über sie lässt sich alles sagen, sie gibt sich allen hin.

Wenn Gott in die Materie verwurstet wird, entstehen allerhand Probleme, etwa dass ein deus omnipotens wohl kaum um das Einhalten physikalischer Gesetze bekümmert sein zu baucht, ein deus materiales aber schon. Wenn Gott will, dann zerstört er Seelen, höre ich in der Diskussion. Minds everywhere, rational souls, divine souls, thinking matter, Epikur. Ich weiß nicht, wie nützlich es noch ist, einige der gestellten Fragen zu stellen.

Es sind zwar viele Amerikaner hier aber Materie sei Dank, keine dogmatischen Katholen. Eine materialistische Ethik wird nicht thematisiert: Warum denn auch. Aber oft denke ich mir, will ich wirklich darüber nachdenken, dass ich aus einer solchen Materie bestehen soll. Wie man es will, es gibt immer welche, die aufpassen, dass Materie die Materie bleibt und weder Gott oder noch Mensch in sie hineinfällt, auf sie hereinfallen.

Niemand hier weiß, was für ein Fest gefeiert wird. Überall auf den Straßen, vom Flussufer bis zur Kirche sind Marktstände aufgestellt. Das deutscheste Deutschland, das du dir vorstellen kannst: Freundliche Gesichter über großen Biergläsern, gigantische Schwebegrills mit Würsten. In den Haaren habe sie Sonnenbrillen und an den Händen Kinder. Trotzdem, die Menschen hier sind nicht anders als sonstwo. Sie haben mehr Glück als Verstand, die Journalisten sind dumm und Autos werden abgeschleppt. Niemand meint es böse. Ich beantworte die Frage welcher Feiertag gestern war, kann aber nicht erklären, was gefeiert wurde, was gefeiert hätte werden sollen. Johannisfest, Johannesfest, oder so ähnlich heißt es, weswegen die Leute zusammenströmen. Ich weiß nicht mehr, wie ich zum Konzert gekommen bin, der Gitarrist spielt heftig Gitarre und der Schlagzeuger spielt heftig Schlagzeug. Gedränge, Geschrei, Bier und Würste, vom Flussufer bis zur Kirche, am Flussufer stehen Riesenschaukeln und die Kirche ist zugesperrt.

Jugendliche sitzen nah am Wasser. Sie fotographieren sich selbst dabei, wie sie auf die Wasseroberfläche starren. Einige der Leute, fällt mir auf, haben komische Zähne.

Ein Vortrag über eine der schönsten Metaphern von Diderot, Le lecteur c’est le livre même. In der Diskussion wird das versucht, zu sagen, dass die Metapher gar nichts sagt, falsch ist. Später wird niemand mit meiner Erklärung etwas anfangen können. Der merkwürdigste Einwand ist, Aber dann müssten ja alle Gedanken propositional sein. Unter uns MetaphysikerInnen ist das natürlich eine sehr seltsame Annahme.

Schließlich setzt du dich auf den letzten freien Platz am ersten Tisch. The americans talk about fly fishing, American TV shows and playing angry birds. Naja, der Finne, auch hiersitzend, erzählt mir, dass Edgar Allen Poe dasselbe schreibt wie Diderot: Was gegenüber Rationalismus und gegenüber Empirismus den Vorrang (hinsichtlich was) hat, das ist die Phantasie. Voilà une Machine bien éclairée!

Ich verpasse den letzten Bus und nehme einen anderen, steige eine Station vor meiner aus. Was denn Campus, denke ich, und es ist bestimmt eine Abkürzung, über den Campus zu gehen, vielleicht auch bei Nacht eine nette Abkürzung, denke ich und nehme den Weg zum Campus. Morgen werde ich sehen, an welcher Ecke ich falsch abgebogen, d.h. nicht abgebogen, bin.

Surren und Brausen gehen in der Nacht auf, die Geräusche leerer Gebäude: Ventilatoren rühren ihre Abluft, durch Gasleitungen wird Gas gepumpt. Descartes schreibt, das Blut wird durch Schläuche getrieben, esprits animaux geistern durch enge Tunnelröhren. Ich höre das Zischen der Wassersprenger über den Anlagen des Botanischen Gartens, das unerklärliche Surren der Gebäude, in deren Fassade irgendwo vielleicht noch ein Zimmer herausleuchtet, etwa am Institut für Zahnärztliche Werkstoffkunde und Technologie oder dem hiesigen Elektronenbeschleuniger.

Als ich den Unicampus zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gleich an daheim in der Sowjetunion gedacht, hat die Moskauerin gesagt, So viele Gebäude, die ohne ein gemeinsames Konzept wohin gestellt worden sind, mittlerweile kaputt oder verlassen sind und neben denen wieder neue gebaut werden.

Ich sehe eine Tafel mit der Aufschrift, Vorsicht Strahlung.

Samstags ist die Mensa geschlossen, es gibt keine Brötchen und keinen Kaffee, ich spare diesmal nicht 13,80 Euro sondern die ganzen 15, weil ich gar kein Frühstück bekomme. LASS DIE SONNE REIN ist auf einem Gebäude zu lesen, auf einer der vielen Campusübersichtspläne hat jemand geschrieben SCHEIß AUF UNI DOPE STATT UNI.

Schließlich sehe ich einen Hasen, der über eine Wiese und eine Straße zum Institut für Kernphysik hoppelt.

Donnerstag, 19. Juni 2014

Materialismus 1

Eine Mutter, vielleicht auch eine Oma oder ältere Tante, fragt ihren Sohn, Enkel, Neffen, Sebastian, wo willst du denn jetzt hinne und Sebastian schreit wütend, mit seiner der Hand zackig auf ein Schild deutend, Dorthinne. Herzlich Willkommen.

Mauthner schreibt an einer Stelle, die ich nicht finde, mir vielleicht nur einbilde, die Seele hätte materiell verstanden werden können, stattdessen wurde die Materiel beseelt. Voilà, le matérialisme.

Und so ist auch das Materialismus: Im Flugzeug neben Shattor sitzen, der mir mit einer Bierfahne erzählt, dass er nur lieb sein will, und weitererzählt, dass er Koch ist, Küchenchef, wie er sagt, und von Yacht zu Yacht, von Restaurant zu Restaurant kommt, dort irgendwelche Köche, noch keine Küchenchefs, ausbildet, was er seit 20 Jahren macht und ihn mittlerweile annervt. Shattor erzählt, dass er eine Maschine ist, beim Kochen denkt er nicht mehr nach, alles ist Reflex. 1500 Rezepte sind in meinem Gehirn, sagt er. Am 11. September 2001 war er in New York, er hat das zusammenkrachende World Trade Center gesehen. Shattor erzählt, dass er im Flugzeug immer Tomatensaft und Prosecco trinkt und dass es dann keine Turbulenzen gibt. Und wenn er keinen Tomantensaft und keinen Prosecco trinkt, dann – er schüttelt seinen Körper. Schließlich bittet er die Stewardess um einen Tomatensaft und einen Prosecco, es gibt keinen Prosecco aber Weißen Spritzer, er trinkt aus und vor dem Landeanflug, es gab keine Turbulenzen, sagt er mir, siehst du.

Und auch das ist Materialismus: Der erste Taxifahrer, den ich am Bahnhof anspreche, sagt, dass ich zum Taxi weiter vorne gehen soll, weil der Taxikollege schon länger hier wartet als er und dass es unfair wäre, wenn ich jetzt bei ihm einsteige. Und der vordere Taxikollege wirft seine Zigarette weg und sagt, dass heute niemand mehr mit dem Taxi fährt, alle gehen zu Fuß, alle fahren mit dem Bus. Ich frage, ob hier auch heute Feiertag ist, er fragt mich, ob ich zum Philosophicum fahren möchte, ich frage ihn, ob die Taxifahrer hier alle so nett zueinander sind (man denke an Österreich) und er fragt mich, welchen philosophischen Satz ich ihm denn erzählen kann. In einem Taxi vom Bahnhof zum Hotel, in das ich gar nicht eingestiegen wäre, wenn die Menschen nicht so höflich zueinander wären, erzähle ich vom egoisitschen cogito ergo sum. Der Taxifahrer zweifelt daran, ich sage Performativität, der Taxifahrer zeigt mir Schleichwege, die ich zu Fuß nehmen kann.

Auch das ist Materialismus: Die Frau aus dem Hotel sagt zwei mal links gehen, ich gehe zwei mal links, irgendwann zweifele ich an der Wegbeschreibung, frage zwei junge Leute, ob das die Richtung zur Uni sei, sie schütteln, jeder für sich, ihre Köpfe und deuten auf die mir entgegengesetzte Richtung, da lang, hier lang, frage ich, sie sagen, Ja, ich frage mich, warum die Frau im Hotel zwei mal nach links gehen gesagt hat, wenn ich einmal links und einmal rechts gehen müsste.

Auf sauberen Gehsteigen passiere ich Verbots- und Hinweisschilder, die verhindern, dass etwas anderes passiert als Füßgänger. Parken verboten, Türe immer geschlossen halten, Achtung Alarmgesichert, Diese Computer dürfen nur zur Literaturrecherche benützt werden, Maximal 8 Personen, Rauchen verboten. Vom Flugzeug aus war die Geometrie des Landes zu sehen, Äcker, Häuser und Waldflächen in geordneten Flächen. Houellebecq schreibt, dass von oben, etwa der Distanz, die eine Landkarte zum Gebiet hat oder einem hoch fliegenden Flugzeug aus, alles sehr ordentlich und angenehm aussieht. Von einem tiefer fliegenden Flugzeug aus ist die Sache schon weniger angenehm, man sieht wuchernde Hotelanlagen, abgerissene Fabriken, und richtig schlimm wird es mit den Beinen auf der Erde: Der Dreck, das Chaos.
Aber hier sind weder Dreck noch Chaos, Hinweis- und Verbotsschilder leisten ihren Beitrag, beides zu verhindern und die Gehsteige sind sauber und die Menschen sind höflich. An die Innenseite der Lifttüre hat jemand Der Kot ist Rot geschrieben, jemand anders Deutschland. Unter der Zugbrücke steht ein Mann mit weißen Haaren und Trompete und spielt für vorbeifahrende Züge. Public Viewing Fußball-WM, Scheiß auf England sind sich alle einig, ein kollektives Fuck, als ein Spieler für England ein Tor schießt.

Ein im Gesicht über und über mit Senf beschmierter Leberkäsebrötchenesser steht vor dem Bus und redet mit dem Busfahrer. Das Senfgesicht fragt den Busfahrer mit überschlagender Zunge, ob der Bus auch hier oder da stehen bleibt, ich haste in den Bus hinein, höre zu, der Busfahrer sagt, Ne da fahrn mer nich hin, macht die Türe zu und fährt los. Er fragt mich, ob ich verstanden hätte, was das Senfgesicht gesagt hat und ich sage nein, nur das Senf im Gesicht habe ich gesehen und er sagt – wohl eine Frage, die er niemanden stellt – ob die Leute denn nicht lesen können, keine Döner und Brötchen hier mitnehmen, kein Restaurant sei der Bus. Ich sage ihm, dass ich nicht so sicher sei, ob Senfgesicht noch lesen konnte und bei der Ampel sage ich ihm, dass ich eine Fahrkarte für dort- oder dahin gerne hätte und der Fahrer meint, dass das ja nur ein paar Stationen sind und das schon in Ordnung geht.

Auch das ist Materialismus: Mir ist schnell klar, dass am ersten Tisch, dem bereits vollem, die Amerikaner sitzen und am zweiten: Die Anderen. Ich setze mich zu den anderen, den Europäern, neben mir ein Italiener, eine Moskauerin, die im Visum als Ukrainerin eingetragen ist, eine Französin und eine Engländerin, die in Frankreich aufgewachsen ist und in Italien lebt. Wir unterhalten und in einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch. Sie habe schon so viele Bücher über LaMettrie geschrieben und immer noch sagen die Menschen, es geht darin um die Erklärung des Menschen als Maschine, sie verstehe das nicht, hat denn niemand den Text gelesen. Wenn man über Diderot arbeitet, muss man alles lesen: Die philosophischen Texte, die literarischen, die Briefe, die Enzyklopädie, alles; alles gehört zusammen. Niemand versteht, was Schopenhauer damit zu tun hat, trotzdem hat Schopenhauer irgendwie alle beeinflusst, die Leute die vor ihm gelebt haben, Wittgenstein sowieso und was ist mit der Psychoanalyse, frage ich, ja, ohne Schopenhauer gäbe es auch keine Psychoanalyse.