Sonntag, 22. Juni 2014

Materialismus 2

Ich bin sehr erstaunt darüber, dass hier so viele so viel über Gott reden. Hier werden Bemerkungen abgetan mit, Das ist keine metaphysische Frage. Materie wehrt sich nicht, über sie lässt sich alles sagen, sie gibt sich allen hin.

Wenn Gott in die Materie verwurstet wird, entstehen allerhand Probleme, etwa dass ein deus omnipotens wohl kaum um das Einhalten physikalischer Gesetze bekümmert sein zu baucht, ein deus materiales aber schon. Wenn Gott will, dann zerstört er Seelen, höre ich in der Diskussion. Minds everywhere, rational souls, divine souls, thinking matter, Epikur. Ich weiß nicht, wie nützlich es noch ist, einige der gestellten Fragen zu stellen.

Es sind zwar viele Amerikaner hier aber Materie sei Dank, keine dogmatischen Katholen. Eine materialistische Ethik wird nicht thematisiert: Warum denn auch. Aber oft denke ich mir, will ich wirklich darüber nachdenken, dass ich aus einer solchen Materie bestehen soll. Wie man es will, es gibt immer welche, die aufpassen, dass Materie die Materie bleibt und weder Gott oder noch Mensch in sie hineinfällt, auf sie hereinfallen.

Niemand hier weiß, was für ein Fest gefeiert wird. Überall auf den Straßen, vom Flussufer bis zur Kirche sind Marktstände aufgestellt. Das deutscheste Deutschland, das du dir vorstellen kannst: Freundliche Gesichter über großen Biergläsern, gigantische Schwebegrills mit Würsten. In den Haaren habe sie Sonnenbrillen und an den Händen Kinder. Trotzdem, die Menschen hier sind nicht anders als sonstwo. Sie haben mehr Glück als Verstand, die Journalisten sind dumm und Autos werden abgeschleppt. Niemand meint es böse. Ich beantworte die Frage welcher Feiertag gestern war, kann aber nicht erklären, was gefeiert wurde, was gefeiert hätte werden sollen. Johannisfest, Johannesfest, oder so ähnlich heißt es, weswegen die Leute zusammenströmen. Ich weiß nicht mehr, wie ich zum Konzert gekommen bin, der Gitarrist spielt heftig Gitarre und der Schlagzeuger spielt heftig Schlagzeug. Gedränge, Geschrei, Bier und Würste, vom Flussufer bis zur Kirche, am Flussufer stehen Riesenschaukeln und die Kirche ist zugesperrt.

Jugendliche sitzen nah am Wasser. Sie fotographieren sich selbst dabei, wie sie auf die Wasseroberfläche starren. Einige der Leute, fällt mir auf, haben komische Zähne.

Ein Vortrag über eine der schönsten Metaphern von Diderot, Le lecteur c’est le livre même. In der Diskussion wird das versucht, zu sagen, dass die Metapher gar nichts sagt, falsch ist. Später wird niemand mit meiner Erklärung etwas anfangen können. Der merkwürdigste Einwand ist, Aber dann müssten ja alle Gedanken propositional sein. Unter uns MetaphysikerInnen ist das natürlich eine sehr seltsame Annahme.

Schließlich setzt du dich auf den letzten freien Platz am ersten Tisch. The americans talk about fly fishing, American TV shows and playing angry birds. Naja, der Finne, auch hiersitzend, erzählt mir, dass Edgar Allen Poe dasselbe schreibt wie Diderot: Was gegenüber Rationalismus und gegenüber Empirismus den Vorrang (hinsichtlich was) hat, das ist die Phantasie. Voilà une Machine bien éclairée!

Ich verpasse den letzten Bus und nehme einen anderen, steige eine Station vor meiner aus. Was denn Campus, denke ich, und es ist bestimmt eine Abkürzung, über den Campus zu gehen, vielleicht auch bei Nacht eine nette Abkürzung, denke ich und nehme den Weg zum Campus. Morgen werde ich sehen, an welcher Ecke ich falsch abgebogen, d.h. nicht abgebogen, bin.

Surren und Brausen gehen in der Nacht auf, die Geräusche leerer Gebäude: Ventilatoren rühren ihre Abluft, durch Gasleitungen wird Gas gepumpt. Descartes schreibt, das Blut wird durch Schläuche getrieben, esprits animaux geistern durch enge Tunnelröhren. Ich höre das Zischen der Wassersprenger über den Anlagen des Botanischen Gartens, das unerklärliche Surren der Gebäude, in deren Fassade irgendwo vielleicht noch ein Zimmer herausleuchtet, etwa am Institut für Zahnärztliche Werkstoffkunde und Technologie oder dem hiesigen Elektronenbeschleuniger.

Als ich den Unicampus zum ersten Mal gesehen habe, habe ich gleich an daheim in der Sowjetunion gedacht, hat die Moskauerin gesagt, So viele Gebäude, die ohne ein gemeinsames Konzept wohin gestellt worden sind, mittlerweile kaputt oder verlassen sind und neben denen wieder neue gebaut werden.

Ich sehe eine Tafel mit der Aufschrift, Vorsicht Strahlung.

Samstags ist die Mensa geschlossen, es gibt keine Brötchen und keinen Kaffee, ich spare diesmal nicht 13,80 Euro sondern die ganzen 15, weil ich gar kein Frühstück bekomme. LASS DIE SONNE REIN ist auf einem Gebäude zu lesen, auf einer der vielen Campusübersichtspläne hat jemand geschrieben SCHEIß AUF UNI DOPE STATT UNI.

Schließlich sehe ich einen Hasen, der über eine Wiese und eine Straße zum Institut für Kernphysik hoppelt.

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