Donnerstag, 19. Juni 2014

Materialismus 1

Eine Mutter, vielleicht auch eine Oma oder ältere Tante, fragt ihren Sohn, Enkel, Neffen, Sebastian, wo willst du denn jetzt hinne und Sebastian schreit wütend, mit seiner der Hand zackig auf ein Schild deutend, Dorthinne. Herzlich Willkommen.

Mauthner schreibt an einer Stelle, die ich nicht finde, mir vielleicht nur einbilde, die Seele hätte materiell verstanden werden können, stattdessen wurde die Materiel beseelt. Voilà, le matérialisme.

Und so ist auch das Materialismus: Im Flugzeug neben Shattor sitzen, der mir mit einer Bierfahne erzählt, dass er nur lieb sein will, und weitererzählt, dass er Koch ist, Küchenchef, wie er sagt, und von Yacht zu Yacht, von Restaurant zu Restaurant kommt, dort irgendwelche Köche, noch keine Küchenchefs, ausbildet, was er seit 20 Jahren macht und ihn mittlerweile annervt. Shattor erzählt, dass er eine Maschine ist, beim Kochen denkt er nicht mehr nach, alles ist Reflex. 1500 Rezepte sind in meinem Gehirn, sagt er. Am 11. September 2001 war er in New York, er hat das zusammenkrachende World Trade Center gesehen. Shattor erzählt, dass er im Flugzeug immer Tomatensaft und Prosecco trinkt und dass es dann keine Turbulenzen gibt. Und wenn er keinen Tomantensaft und keinen Prosecco trinkt, dann – er schüttelt seinen Körper. Schließlich bittet er die Stewardess um einen Tomatensaft und einen Prosecco, es gibt keinen Prosecco aber Weißen Spritzer, er trinkt aus und vor dem Landeanflug, es gab keine Turbulenzen, sagt er mir, siehst du.

Und auch das ist Materialismus: Der erste Taxifahrer, den ich am Bahnhof anspreche, sagt, dass ich zum Taxi weiter vorne gehen soll, weil der Taxikollege schon länger hier wartet als er und dass es unfair wäre, wenn ich jetzt bei ihm einsteige. Und der vordere Taxikollege wirft seine Zigarette weg und sagt, dass heute niemand mehr mit dem Taxi fährt, alle gehen zu Fuß, alle fahren mit dem Bus. Ich frage, ob hier auch heute Feiertag ist, er fragt mich, ob ich zum Philosophicum fahren möchte, ich frage ihn, ob die Taxifahrer hier alle so nett zueinander sind (man denke an Österreich) und er fragt mich, welchen philosophischen Satz ich ihm denn erzählen kann. In einem Taxi vom Bahnhof zum Hotel, in das ich gar nicht eingestiegen wäre, wenn die Menschen nicht so höflich zueinander wären, erzähle ich vom egoisitschen cogito ergo sum. Der Taxifahrer zweifelt daran, ich sage Performativität, der Taxifahrer zeigt mir Schleichwege, die ich zu Fuß nehmen kann.

Auch das ist Materialismus: Die Frau aus dem Hotel sagt zwei mal links gehen, ich gehe zwei mal links, irgendwann zweifele ich an der Wegbeschreibung, frage zwei junge Leute, ob das die Richtung zur Uni sei, sie schütteln, jeder für sich, ihre Köpfe und deuten auf die mir entgegengesetzte Richtung, da lang, hier lang, frage ich, sie sagen, Ja, ich frage mich, warum die Frau im Hotel zwei mal nach links gehen gesagt hat, wenn ich einmal links und einmal rechts gehen müsste.

Auf sauberen Gehsteigen passiere ich Verbots- und Hinweisschilder, die verhindern, dass etwas anderes passiert als Füßgänger. Parken verboten, Türe immer geschlossen halten, Achtung Alarmgesichert, Diese Computer dürfen nur zur Literaturrecherche benützt werden, Maximal 8 Personen, Rauchen verboten. Vom Flugzeug aus war die Geometrie des Landes zu sehen, Äcker, Häuser und Waldflächen in geordneten Flächen. Houellebecq schreibt, dass von oben, etwa der Distanz, die eine Landkarte zum Gebiet hat oder einem hoch fliegenden Flugzeug aus, alles sehr ordentlich und angenehm aussieht. Von einem tiefer fliegenden Flugzeug aus ist die Sache schon weniger angenehm, man sieht wuchernde Hotelanlagen, abgerissene Fabriken, und richtig schlimm wird es mit den Beinen auf der Erde: Der Dreck, das Chaos.
Aber hier sind weder Dreck noch Chaos, Hinweis- und Verbotsschilder leisten ihren Beitrag, beides zu verhindern und die Gehsteige sind sauber und die Menschen sind höflich. An die Innenseite der Lifttüre hat jemand Der Kot ist Rot geschrieben, jemand anders Deutschland. Unter der Zugbrücke steht ein Mann mit weißen Haaren und Trompete und spielt für vorbeifahrende Züge. Public Viewing Fußball-WM, Scheiß auf England sind sich alle einig, ein kollektives Fuck, als ein Spieler für England ein Tor schießt.

Ein im Gesicht über und über mit Senf beschmierter Leberkäsebrötchenesser steht vor dem Bus und redet mit dem Busfahrer. Das Senfgesicht fragt den Busfahrer mit überschlagender Zunge, ob der Bus auch hier oder da stehen bleibt, ich haste in den Bus hinein, höre zu, der Busfahrer sagt, Ne da fahrn mer nich hin, macht die Türe zu und fährt los. Er fragt mich, ob ich verstanden hätte, was das Senfgesicht gesagt hat und ich sage nein, nur das Senf im Gesicht habe ich gesehen und er sagt – wohl eine Frage, die er niemanden stellt – ob die Leute denn nicht lesen können, keine Döner und Brötchen hier mitnehmen, kein Restaurant sei der Bus. Ich sage ihm, dass ich nicht so sicher sei, ob Senfgesicht noch lesen konnte und bei der Ampel sage ich ihm, dass ich eine Fahrkarte für dort- oder dahin gerne hätte und der Fahrer meint, dass das ja nur ein paar Stationen sind und das schon in Ordnung geht.

Auch das ist Materialismus: Mir ist schnell klar, dass am ersten Tisch, dem bereits vollem, die Amerikaner sitzen und am zweiten: Die Anderen. Ich setze mich zu den anderen, den Europäern, neben mir ein Italiener, eine Moskauerin, die im Visum als Ukrainerin eingetragen ist, eine Französin und eine Engländerin, die in Frankreich aufgewachsen ist und in Italien lebt. Wir unterhalten und in einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Italienisch und Französisch. Sie habe schon so viele Bücher über LaMettrie geschrieben und immer noch sagen die Menschen, es geht darin um die Erklärung des Menschen als Maschine, sie verstehe das nicht, hat denn niemand den Text gelesen. Wenn man über Diderot arbeitet, muss man alles lesen: Die philosophischen Texte, die literarischen, die Briefe, die Enzyklopädie, alles; alles gehört zusammen. Niemand versteht, was Schopenhauer damit zu tun hat, trotzdem hat Schopenhauer irgendwie alle beeinflusst, die Leute die vor ihm gelebt haben, Wittgenstein sowieso und was ist mit der Psychoanalyse, frage ich, ja, ohne Schopenhauer gäbe es auch keine Psychoanalyse.

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